Karma

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Seit heute Morgen glaube ich an die ausgleichende Wirkung des Karmas. Um 05.30 in der S-Bahn zum Arbeitsplatz zu fahren, ist eine körperliche und geistige Herausforderung. Als nach zwei Stationen ein altes Paar zustieg, wurde ich aber mehr als nur gebührend für meine Strapazen entschädigt.

 

Wenn ich alt sage, dann meine ich alt. Genauer gesagt, 82 war sie. Woher ich das weiss? Sie hat es erzählt. Mehrmals.

 

Die Beiden waren elegant gekleidet, er Anzug und Hut, sie ebenfalls im Kostüm und mit Hut. Mit dem falschen Hut, um genau zu sein. Jedenfalls war es genau das, was sie beschäftigte, nachdem sie sich gesetzt hatten. Er hatte eine sehr rundliche Figur, wirkte aber irgendwie sympathisch. Wie eine Comicfigur. Bestimmt war er ein Unternehmer, vor langer Zeit. Der Schweiss ran ihm von der Stirn, er kämpfte um Luft – die drei Schritte vom Perron in den Zug hatten ihm zugesetzt. Und sie beklagte sich, dass sie in der Eile den falschen Hut aufgesetzt hatte. Oder vielleicht hatte sie den anderen Eingepackt? Dabei fiel ihr ein, dass sie ja ihr ganzes Gepäck im Eingangsbereichs des Zugwaggons hatten stehen lassen. Also beschloss sie, den Sitzplatz zu wechseln, um die vier Koffer im Auge behalten zu können. Ach ja: Jede ihrer Handlungen erklärte sie ihrem Mitreisenden und dem halben Zugsabteil.

Und ich fragte mich, was sie wohl hätte unternehmen wollen, wenn sich wirklich jemand einen ihrer Koffer geschnappt hätte und aus dem Zug ausgestiegen wäre. Vielleich war es sogar der frühen Morgenstunde zu verdanken, dass ich das Experiment nicht selber machte.

 

„Fährt dieser Zug direkt zum Flughafen?“, fragte sie ihn und ohne eine Antwort abzuwarten die anderen Fahrgäste um sie herum. Nachdem sie ihre Frage mehrfach bejaht bekam, wollte sie an der nächsten Haltestelle aussteigen. Davon konnte sie abgehalten werden. Was zu einer ausführlichen Diskussion führte, was denn „direkt“ bedeutet. Sie war der Meinung, ohne Halt zum Flughafen. Naja, damit hatte sie ja nicht unrecht – er und alle anderen angesprochenen waren der Meinung: ohne Umsteigen und nicht über Bern.

 

Schliesslich begann, zuerst als Selbstgespräch und später als Diskussion mit ihrem Begleiter, das Thema: Wie kommen wir schnell genug mit unserem Gepäck aus dem Zug? Er war der Meinung, dass ihr Vorschlag, sie würde einen und er drei nehmen, nicht praktikabel war. Ihr waren aber zwei zu schwer. Womit sich der Diebstahl eines Koffers erneut aufdrängte. Seine Vorschläge, die kleineren Koffer auf den grossen Rollkoffer zu packen, machte sie mit dem Gegenvorschlag, einen Gepäckwagen zu benutzen, zunichte. Was er wiederum lapidar kommentierte mit den Worten: „Dummerweise haben wir den Gepäckwagen erst, wenn wir am Flughafen sind.“

 

Er war sichtlich genervt, als sie wieder den falschen Hut bemängelte und schliesslich meinte sie: „Naja, mit 82 geht es eben nicht mehr so einfach!“

Ab da war die Stimmung auf dem Siedepunkt: „Jetzt hör endlich mal auf, immer alles auf das Alter abzuschieben. 82 hier, 82 da! Ich kann das nicht mehr hören!“

 

Ich überlegte kurz, ob ich die beiden nicht noch die zwei Stationen weiter begleiten sollte, beschloss aber, dass das Karma mir den Morgen genug versüsst hatte und verliess den Zug.

Und wie sah es wohl mit dem Karma der Beiden aus? Wer hatte wohl wen verdient?

Künftig werde ich sicher mit viel mehr Vorfreude den Frühzug nehmen!

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