Der Anzug
Weil die Verwandten mehr Zeit im Spital als zu Hause verbringen, muss ich mir langsam ernsthaft Gedanken machen, was ich an der nächsten Beerdigung anziehen könnte. Naheliegend der klassische Anzug. Aber, als modebewusster Mensch, will man sich trotzdem von der Masse abheben. Deshalb machte ich mich auf die Suche nach einer Alternative.
Ein Tag Shopping brachte folgende Erkenntnis: Mit genügend Kleingeld kann man sich sehr schöne Anzüge kaufen. Bloß: So wirklich einzigartig sind sie dennoch nicht.
Shopping für Männer – Im Internet, das könnte eine alternative sein. Dachte ich zumindest. Nachdem ich mich auf der ersten Plattform bis auf den Zentimeter genau geoutet hatte, aber nicht einen einzigen Preis oder ein Kleidungsstück zu Gesicht bekam, hätte ich meine Telefonnummer angeben sollen. Wozu? Damit mich eine knapp zwanzigjährige Lea anruft, um meinen Kleidergeschmack anhand meiner Stimme zu erkennen?
Ich habe meinen Anmeldevorgang abgebrochen und überlegt: Ein Mann braucht keine Shoppingberatung – ein Mann macht es selbst!
Dank Google und Internet alles kein Problem.
Mit dem fertigen Anzug vor Augen, begab ich mich in den größten Stoffladen, den ich finden konnte.
Es war recht einfach: die bunten Stoffe konnte ich unbeachtet lassen. Apfelgrün und Altrosa steht mir nicht, selbst wenn Lea etwas anderes aus meiner Stimme hören würde. Schließlich blieben mir schwarze, braune, graue, weiße, violette, karierte, gestreifte, gemusterte und gepunktete Stoffe zur Auswahl. Weil ich mich nicht sofort entscheiden konnte, nahm ich mir eine größere Anzahl an Stoffballen mit. Wäre ja auch zu blöd, wenn ich meinen Schneiderkünsten Einhalt gebieten müsste, nur, weil ich dann genau diesen oder jenen Stoff nicht gekauft hätte.
Ach ja: Bereits jetzt hätte ich mir für das gleiche Geld mehrere Anzüge und Lea kaufen können …
Und dann folgte erst das Kleinmaterial. Knöpfe, Reißverschlüsse, Faden in allen Farben und Stärken, Nadeln, Scheren, Stifte, Bordüren, Abschlusskanten, Schnittmuster, Maßbänder, Schneiderpuppen, Nähmaschinen mit Schmiermittel, Spezialwerkzeugen, Füßchen, Spulen und hundertjährigen Serviceverträgen … Außerdem wurde mir geraten, eine Overlockmaschine dazu zu nehmen. Selbstverständlich mit dem gleichen Zubehör wie für die beiden normalen Nähmaschinen.
Als ich mich nach den Einstellmöglichkeiten erkundigte, wurde mir das 1300-seitige Handbuch in 25 Sprachen in die Hand gedrückt. Eigentlich wollte ich meine Zeit mit nähen und nicht mit lesen verbringen. Und schon gar nicht mit dem autodidaktischen lernen von Japanisch und Suaheli. Nun gut, es wird mir auch nicht schaden, wenn ich das auch noch kann …
Möglicherweise wäre mir die Kommunikation mit dem netten Lastwagenfahrer leichter gefallen, der mir meinen Einkauf nach Hause lieferte, wenn ich eine weitere Sprache beherrscht hätte. Und vielleicht hätte ich dann auch nicht einen ganzen Tag damit zugebracht, all die Dinge alleine Quer durch das Dorf in meine Wohnung zu tragen.
Schließlich konnte ich loslegen und unermüdlich schnippelte, stickte, nähte, änderte und korrigierte ich an meinem Anzug herum. Immer wieder musste ich mir Videoanleitungen anschauen (mir wurde allmählich auch bewusst, warum japanisch so wichtig war) und bestellte mir eine Anzahl Bücher zum Thema. Schnitt neu aus, passte an und setzte dieses und jenes zusammen. Kürzte weiter und nähte an.
Und da liegt es nun vor mir, das Prachtstück. Es ist, wie soll ich sagen? Nicht ganz so herausgekommen, wie ich es geplant hatte. Zu einer Beerdigung werde ich es wohl kaum tragen können – aber mit ein wenig Hilfe und Unterstützung einer Fachperson, könnte daraus möglicherweise noch ein Stringtanga werden! Lea wäre bestimmt begeistert!